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Die isländischen Langform-Liebhaber

Undefinierbare Genregrenzen, traumartige Soundcollagen und eine eigene gesungene Sprache: die isländische Band Sigur Rós sprengt in beinahe jedem Punkt die Erwartungshaltung vieler Rock Enthusiasten. Die Gruppe gründet sich 1994 um Frontmann Jónsi herum – einer, der die Gitarre mit dem Bogen spielt und auch sonst keinen Hehl aus seinen ungewöhnlichen Kompositionsmethoden macht. Das Trio, dessen Name übersetzt Siegesrose bedeutet, gewinnt bereits früh die Sympathie des Björk eigenen Labels Bad Taste und bringt drei Jahre später die erste Platte Von heraus. Die durch schwere E-Gitarren unterbrochenen Ambient-Tracks stoßen erstmal auf keinen großen Erfolg, und die ein Jahr später erschienene Remix-Platte Von brigði ändert daran nur wenig. Erst mit Ágætis byrjun erreichen die Post-Rock-Bastler im Jahr 1999 einen hart erkämpften landesweiten wie internationalen Hit und finden sogar Erwähnung bei Legenden wie David Bowie – langsam aber sicher nisten Sigur Rós sich im internationalen Markt ein. Beim britischen Indie-Label Fat Cat finden sie fortan ein Zuhause, ihr zehnminütiger Song Svefn-g-englar wird von NME zur Single of the Week gekrönt, und in Europa eröffnen die Langform-Liebhaber jetzt Shows für Radiohead. Nach diesem rasanten Aufstieg legt die Band 2001 eine Pause ein und baut sich ein eigenes Heimstudio für das nächste Projekt – das trägt den obskuren Titel ( ).

Wortlose Texte und unorthodoxe Songstrukturen

Der wortlose Albumtitel ist dabei durchaus im Einklang mit den atmosphärischen Songs: statt Worten findet sich die von Jónsi erfundene Nonsens-Sprache Vonlenska in den Kompositionen. Schlagzeuger Dýrason meint dazu bloß: „Alle Lieder waren vollständig ausgearbeitet und es wäre seltsam gewesen, plötzlich Texte in diese fertigen Produkte einzufügen.“ Für den 2005 aufgenommenen Nachfolger Takk… gibt es dann wieder isländische Lyrics, hier und da kehrt Jónsi aber auch immer wieder zum Vonlenska zurück – die Interpretation bleibt dann vollkommen dem Hörer überlassen. Damit erschließt sich Sigur Rós die oberen Gefilde der Charts in den USA sowie in Großbritannien – für einen isländischen Post-Rock-Act mit Elementen der Klassik und durchgehend unorthodoxen Songstrukturen ziemlich bemerkenswert. Mit Heima erscheint 2006 ein Konzertfilm, der unter Fans stets heilig gehalten wird, und für das neue Werk Með suð í eyrum við spilum endalaust holt sich die Band zwei Jahre später den Produzenten Mark Flood Ellis ins Boot – der ist für seine Arbeit mit New Order, U2 und sowieso den größten in der Industrie bekannt. Gemeinsam mit Flood nähern sich Sigur Rós dem Pop an, inklusive ihrem ersten Track auf Englisch – und der Song Festival landet dann sogar in Danny Boyles Filmdrama 127 Hours.

In Nostalgie schwelgendes Orchester

2010 markiert den Beginn von Jónsis Solokarriere mit seiner ersten Platte Go, und die Liveplatte Inni dokumentiert einmal mehr die exzessiven Shows, die Sigur Rós seit ihrer Gründung hinlegen und sie zu einem weltweit gefragten Live-Erlebnis machen. Back to the roots geht es mit ihrer 2012er Platte Valtari, die von der Band schlicht als eine Lawine in Slow-Motion umschrieben wird – dabei werden vergessene Ideen aus alten Tagen wiederverwendet und neu erfunden. Mit Kveikur folgt ein Jahr darauf dann die Antithese dazu – ungleich direkt und teils aggressiv erzählt Frontmann Jónsi wieder Geschichten auf Vonlenska, unterlegt von knarzenden Gitarren. Mit neuen Albumaufnahmen lässt die Gruppe es danach aber eher langsam angehen: weltweite Konzerttourneen sowie Tracks für Serien stehen auf dem Plan, doch ein neues Projekt lässt auf sich warten. Das Bild der Band trübt sich, als der langjährige Ros-Schlagzeuger Dýrason nach Anschuldigungen wegen sexueller Nötigung 2018 die Band verlässt. Im Juni 2023 erscheint nach 10 Jahren dann aber die Platte ÁTTA, die in Nostalgie schwelende Orchester in den Vordergrund hebt und mit Anleihen an die späten Radiohead verbindet. Und das funktioniert nur so gut, weil Sigur Rós sich noch nie um den Kommerz geschert haben.